Vorwort
Als ich in den Spiegel sah, blickte mich von dort ein Mann mit dunklen Schatten unter den Augen und recht ausgeprägten Tränensäcken an, die zum Teil von dem schmalen Metallgestell seiner Brille kaschiert wurden. Ohne Brille hätte ich gar nicht mehr hineinsehen müssen, jedenfalls nicht, wenn ich nach Details suchte, denn meine Augen hatten in den letzten 10 bis 12 Jahren empfindlich an Sehkraft verloren. Der Gesichtsausdruck des Mannes war irgendwie bekümmert, aber höchstwahrscheinlich wirkte das nach außen anders. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich wusste, dass seine Grundstimmung traurig war. Ich vermied an das Wort depressiv zu denken, obgleich ich ebenfalls wusste, dass das Gefühl von Trauer und Hoffnungslosigkeit ihn bereits seit Kindertagen begleitete.
Er hatte trotz seines Alters, er befand sich mit großer Wahrscheinlichkeit bereits in der zweiten Hälfte seines Lebens, volles Haar. Nur ganz leicht waren Geheimratsecken zu erkennen. Die ursprüngliche Haarfarbe war nicht mehr auszumachen. Der Grundton war grau, und nur wenn man ganz genau hinsah, schimmerten noch ein paar wenige braune Haare durch. Der Mann trug einen Goatee, der fast weiß war und ihm ein wenig Seriosität verlieh. Das schlanke Gesicht sah müde aus, aber das war eigentlich immer so.
Vergeblich suchte ich nach einem Zeichen von Lebensmut, von Optimismus, von Freude oder Zufriedenheit. Noch nicht einmal Gesundheit konnte ich erkennen, denn meinem Gesicht fehlte jegliche Frische. Ich war sehr blass, und wer mich sah, dachte wahrscheinlich immer so etwas wie, ›Der sieht irgendwie nicht gut aus‹. Daraus, dass die Menschen in meinem Umfeld mich darauf niemals ansprachen, schloss ich, dass ich mir auch das einbildete oder sie so sehr an mein Erscheinungsbild gewöhnt waren, dass es ihnen gar nicht auffiel.
Ich stand oft vor einem Spiegel und betrachtete mein Gesicht. Es war mir sonderbar fremd. Dieses müde und ausgelaugte Gesicht passte nicht zu dem, was mein Gehirn mir projizierte. Eigentlich hätte dort ein erfolgreicher, selbstbewusster und dynamischer Mann zu sehen sein müssen, der wusste, wohin sein Lebensweg ihn führte, und der mit sich und seinem Schicksal zufrieden war. Solange ich mein Spiegelbild auch anstarrte, so jemand wollte dort einfach nicht erscheinen. Ich rückte mein Gesicht etwas näher heran und konzentrierte mich, aber auch das half nicht. Seufzend setzte ich die Brille ab und massierte mir mit den Fingerspitzen die geschlossenen Augen. Es war ein angenehmes Gefühl. Vielleicht würden die Tränensäcke auf diese Weise verschwinden. Als ich nach ein oder zwei Minuten die Augen wieder öffnete und meine Brille die leicht verschwommenen Umrisse meines Spiegelbildes wieder schärften, stand da immer noch dieser fremde müde Mann mit dem traurigen Gesichtsausdruck.
»Was hast du falsch gemacht?«, dachte ich. »Ich habe die 40 bereits deutlich überschritten und nichts von dem erreicht, was ich mir als junger Mensch vorgenommen habe.«
Berufsmäßig hatte ich in den letzten 25 Jahren so manche Station angefahren. Anfangs ging alles nur sehr schleppend. Nachdem ich nach der Schule einige Jahre nur rumgejobbt hatte oder arbeitslos war, habe ich mit Anfang 20, sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg, noch eine vernünftige Ausbildung gemacht, in deren Folge es mir beruflich für rund 15 Jahre wirklich gut ging. Ich verdiente Geld, kein Vermögen, aber immerhin so viel, dass ich ein finanziell unkompliziertes, ja sogar ein komfortables Leben führen konnte. Während dieser Zeit heiratete ich. Meine Frau verdiente ebenfalls sichtbares Geld, und es ging uns gut.
Und was machte ich dann? Ich stürzte mich in ein Abenteuer, das bis heute nicht zu Ende ist und gab diesen sicheren und gut bezahlten Beruf auf, um mich selbständig zu machen. Das war die bisher dümmste Entscheidung meines Lebens. Anfangs kam ich mit dem Unternehmertum gut zurecht. Aber das Schicksal sah für mich keine langanhaltende Unbeschwertheit vor. Einige Jahre, nachdem ich mich selbständig gemacht hatte, trennte ich mich von meiner Frau, und von da an ging es finanziell deutlich bergab. Mehr als ein Jahrzehnt hielt ich die Illusion, dass ich mein Leben trotzdem bewältigte, aufrecht. Unstreitig wusste der Mann im Spiegel, dass das nicht mehr lange funktionieren würde, und genau das sah man ihm sehr deutlich an. Graue Haare auf dem Kopf, weiße Haare im Gesicht und tiefe Sorgenfalten sprachen eine deutliche Sprache.
»Du hast es verkackt!«, dachte ich.
Ich kniff die Augen zu und fühlte mich kurz wie ein kleines Kind, dass die Augen schließt und glaubt, dass es nun nicht mehr gesehen werden kann. Dunkelheit umfing mich, ich atmete stockend. Meine Nerven flatterten, und ich spürte, wie kribbelnd Panik in mir aufstieg. Unbewusst rotierte mein rechter Arm, als würde er auf einen unsichtbaren Gegner einschlagen. Das Augenschließen half nicht, denn vor Angst gibt es kein Versteck. Ich schüttelte den Kopf hin und her, als wolle ich den unsichtbaren Gegner bitten, mich in Ruhe zu lassen, aber die Angst ergriff unaufhaltsam Besitz von mir und setzte meinen Körper unter Strom. Sie schien von der Körpermitte direkt ins Gehirn zu fahren und lähmte mich vollständig.
Es nützte nichts, so sehr ich mich auch wehrte, ich konnte die Panik nicht aufhalten. Wenn ich nichts tat, würde ich unaufhaltsam ins Unglück laufen. Mein Leben, wie ich es bisher führte, würde zu Ende sein. Selbstzweifel haben mich sehr oft davon abgehalten, meine manchmal zugegebenermaßen etwas skurrilen Ideen in die Tat umzusetzen. Auf meinen Schultern saßen, wie in einem Lied von Fettes Brot, ein Engel links und ein Teufel rechts, nur waren es in meinem Fall zwei Bonos, ein guter und ein böser.
Der böse Bono sagte: »Lass es einfach sein, es kommt ja sowieso nichts dabei raus, also spar dir die Mühe.«
Der gute Bono erwiderte verzweifelt: »Wenn du nichts tust, läufst du geradewegs in dein Unglück. Was vergibst du dir, wenn du es wenigstens versuchst?«
Ich musste etwas ändern und glaubte zu wissen, dass ich das kann, wenn auch meine Vorstellungen noch unkonkret waren. Also fasste ich einen Entschluss, der mich vor eine riesige Herausforderung stellte.
Ich wollte ein Buch schreiben, weil ich mir ganz sicher war, dass es viele Menschen gibt, die sich für die Dinge interessieren, von denen ich berichten würde. Allerdings wollte ich um jeden Preis verhindern, dass man es mit meiner Person in Verbindung bringt, denn das könnte mein Leben möglicherweise völlig verändern, und vor Veränderungen hatte ich Angst.
In meinem durchschnittlichen Leben gab es bis auf eine Sache nichts, was Außenstehende interessieren würde. So unauffällig und langweilig ich selbst mir erschien, gab es doch eine Seite an mir, die möglicherweise die Neugier einiger Menschen erregen würde, jedenfalls nahm ich das an. Natürlich würden es nicht alle Menschen sein, aber ich hoffte doch, dass es möglichst viele sind. Die meisten würden, so glaubte ich, dieser Seite verständnislos gegenüberstehen und die Dinge, die ich getan habe, in großen Teilen für verwerflich und ekelhaft halten, und dennoch könnten sie sich, so hoffte ich weiter, einer gewissen Faszination nicht entziehen. Mein Buch würde möglicherweise für einen literarischen Sturm der Entrüstung sorgen. Andere würden zu entscheiden haben, ob die Entrüstung meinem Unvermögen Worte aneinanderzureihen gilt oder eher dem Inhalt dessen, was ich niederschrieb, oder vielleicht auch beidem. Moralapostel würden die erhobenen Finger soweit in die Höhe recken, dass sie sinnbildlich bis in den Himmel reichten.
Vor meinem geistigen Auge wandten sich die Menschen von mir ab, beugten sich vorn über und stießen würgende Geräusche aus, um ihre Meinung zu dem, was ich nun glaubte, öffentlich machen zu müssen, unmissverständlich zu verdeutlichen. Das Schlimme daran war, sie hätten recht. Ich selbst habe nie verstanden, warum ich die Dinge tat, die ich tat, warum ich mich nicht im Griff hatte, warum ich es riskierte, dass die Menschen, die ich zu lieben glaubte und von denen ich hoffte, dass sie auch mich liebten, mir zunächst angeekelt ins Gesicht sehen würden, um im nächsten Augenblick völlig beschämt zu Boden zu blicken, damit niemand bemerkt, wie sie mit den Tränen der Enttäuschung kämpfen.
Ich blickte wieder in den Spiegel. Mit offenen Augen betrachtete ich mein Gegenüber und lauschte gleichzeitig meinem eigenen Herzschlag, der in dieser Situation der Angst und Unsicherheit wie eine Trommel in meinem Kopf wummerte. Ich hatte Angst, Angst vor meiner bisherigen Lethargie, die irgendwann zwangsläufig in den Untergang führen würde, Angst vor der eigenen Courage, Angst vor einem Coming out, Angst davor Menschen zu verlieren, die sich vielleicht von mir abwenden würden und auch Angst vor meiner eigenen Disziplinlosigkeit, die eigentlich Ursache meines Scheiterns war.
Manchmal muss man Dinge einfach machen, also begann ich zu schreiben.